Auf die historische Einordnung folgt die kritische Sichtung des Quellenmaterials. Sachliche, bildliche und schriftliche Quellen müssen im Hinblick auf ihre Entstehungszeit, den Entstehungsort, einen möglichen Auftraggeber und ihre Intention bewertet werden. Nur im festgelegten Zeitraum, oder kurz davor und kurz danach (ich habe für mich entschieden: +/- 30 Jahre) entstandene Quellen können eine Vorstellung der Zeit um 1200 geben.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass Abbildungen in illustrierten Prachthandschriften meist idealisiert sind, in Zusammenhang mit dem jeweiligen Text stehen und daher in den wenigsten Fällen genau den realen Gegebenheiten entsprechen.
Ähnliches gilt für Statuen an Kirchen, die auch der Repräsentation dienten und dies oft in Kombination mit heute nicht mehr erhaltener farbiger Bemalung zum Ausdruck brachten.
In literarischen Texten nehmen Kleidungsdarstellungen eher einen geringen Raum ein, da das intendierte Publikum in der Regel mit der aktuellen Mode vertraut und eine detaillierte Beschreibung nicht notwendig war. Wenn Kleidung beschrieben wird, sind dies meist nach der neusten (oft französischen) Mode gefertigte, besonders hochwertige und prachtvolle Gewänder adeliger Personen, die den edlen Charakter einer Figur auch äußerlich demonstrieren sollen. Häufig werden Kleider im Zuge des Wieder-Einkleidens nach einem gesellschaftlichen Abstieg oder einer Krise (z.B. in Hartmanns Erec bei der verarmten Grafentochter Enite vor der Heirat mit Erec und im Iwein nach der Überwindung des durch den Verlust seiner Selbstidentität ausgelösten Wahnsinnes) thematisiert. Mit dem Anziehen schöner Gewänder wird auch der gesellschaftliche Status wieder hergestellt. Kleidungsbeschreibungen können daher nicht losgelöst vom Text betrachtet werden. Sie sind aber wertvolle Quellen für mittelhochdeutsche Termini für Stoffe und Kleidungsstücke.
Generell ist zu bedenken: alle aus Quellen ableitbaren Sachverhalte sind immer nur ein So-kann-es-gewesen-sein, niemals ein So-muss-es-gewesen-sein.
Chronologisch geordnete Übersicht von Sachquellen und Frauen zeigenden Ausschnitten aus Bildquellen überwiegend aus dem süd- und mitteldeutschen Raum (die Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit):
Sachquellen
Bußkleid der Landgräfin und späteren Heiligen Elisabeth von Thüringen, erstes Drittel 13.Jh. (um 1230), Mitteldeutschland
Entstehung des Kleides vor dem Hintergrund und als Ausdruck des von der ungarischen Königstochter und thüringischen Landgräfin Elisabeth gelebten Armutsideals und der Lehren des Bettelordensgründers Franziskus von Assisi.
Kleid der Heiligen Klara (1194 bis 1235), erstes Drittel 13.Jh., Italien
Entstehung des Kleides wohl nach der Entscheidung Clara von Assisis für das Leben in Askese und ihrem Anschluss an die Lehren des Franziskus von Assisi.
Mantel der Heiligen Klara (vor 1253), erste Hälfte 13.Jh., Italien
Entstehung des Mantels wohl nach der Entscheidung Clara von Assisis für das Leben in Askese und ihrem Anschluss an die Lehren des Franziskus von Assisi.
Statuen am Magdeburger Dom, kurz nach 1230 bis um 1250, Mitteldeutschland: Zwei Kluge und eine Törichte Jungfrau der Figurengruppe
Fertigung der Statuen im Zuge der Vergrößerung des 1207 im gotischen Stil begonnenen Magdeburger Domes als Darstellung des Gleichnisses von klugen, christlich-tugendhaften und törichten, irdischen Verlockungen zugewandten Jungfrauen.
Portal der Kirche St. Andreas in Bad Gögging, 1180 bis 1220, Süddeutschland: kluge Jungfrau
Jungfrauenfigur am Portal der der romanischen Kirche St. Andreas.
Fürstenpforte des Bamberger Domes, erste Hälfte 13.Jh., Süddeutschland: Synagoge
Statue der das Judentum symbolisierenden Synagoge am Fürstenportal des romanisch-gotischen Bamberger Kaiserdomes.
Bildquellen
deutschsprachiger Raum
Evangelistar, um 1170 bis 1180, Süddeutschland
Illustration in einer illuminierten Prachthandschrift.
Jungfrauenspiegel, um 1190, Illustrationen in einer Handschrift aus dem 13.Jh., Süddeutschland: unverheiratete und verwitwete Frauen bei der Ernte
Entstehung der Abbildung als Illustration einer Handschrift des christlich-monastischen Lehrtextes Speculum Virginium in Bezug auf die Ernteallegorie und den Vergleich der Produktivität von Jungfrauen, Witwen und Ehefrauen.
Liber ad honorem augusti zur staufischen Eroberung Siziliens, um 1196, Süditalien: Herzogin von Spoleto
Liber Scivias der Hildegard von Bingen, Ende 12.Jh. und um 1220, Süddeutschland: Illustration der Vision III, 11
Entstehung der Abbildung 8 als zeitgemäße Illustration des die staufische Eroberung Siziliens thematisierenden epischen Textes Liber ad honorem augusti sive de rebus Siculis des Petrus de Ebulo: Darstellung der Herzogin von Spoleto bei der Entgegennahme des Babys Friedrich (des späteren Kaiser Friedrich II.). Abbildung 9 Teil der Illustration zur Vision „Ende der Zeiten“: möglicherweise Zeigen der personifizierten Kirche mit dem aus dem Schoß der Frau entspringenden Haupt des Sohnes des Verderbens.
Rupertsberger Scivias-Codex, Ende 12.Jh., Südwestdeutschland: drei der Gotteskräfte in der Miniatur „der Menschensohn“
Entstehung der Miniatur als Illustration der heute nur als Faksimile erhaltenen Rupertsberger Prachthandschrift der Visionen der Mystikerin Hildegard von Bingen.
Reiner Musterbuch, ca. 1200 bis 1220, Österreich: Ehepaar, Ehefrau bei Überwachung der Feldarbeit, Weberin
Abbildungen Teil von Zeichnungen zum Eheleben und Gewerbe im ältesten bekannten Musterbuch: links Darstellung einer Familienszene, in der Mitte der Überwachung der landwirtschaftlichen Arbeit und rechts des Webereigewerbes.
Kopfbedeckungen: bei der Ehefrau (links und in der Mitte) wohl in Form eines Wimpels gebundenes Kopftuch, Gebende der Weberin (rechts)
Jungfrauenspiegel, um 1190, Illustration in einer Handschrift aus dem ersten Viertel des 13.Jhs., Süddeutschland: Personifikationen, Leiter der heiligen Perpetua
Entstehung der Abbildung als Illustration einer Handschrift des christlichen Lehrtextes Speculum Virginium.
Heinrich von Veldeke: Eneasroman, Illustrationen von 1215/1220, Süddeutschland: Königin Dido auf Jagdausflug mit Eneas, Didos Schwester und die Wahrsagerin finden die sterbende Dido, Lavinia schickt einen Brief an Eeneas
Entstehung der Abbildungen als Illustrationen zum ersten deutschsprachigen Liebesroman von ca. 1170-1189.
Psalterium Feriatum, kurz nach 1235, Mitteldeutschland
Goslarer Evangeliar, um 1240, Nord-Mitteldeutschland
Entstehung der Miniaturen als Illustrationen von Prachthandschriften: möglicherweise Darstellung der Pflege Marias nach der Geburt des Jesuskindes.
Codex Buranus, ca. 1230, Süddeutschland: Minneszene
Entstehung der Miniatur sich quer gelegt zwischen Liebeslieder-Texten befindliche und ein Liebespaar zeigende Illustration einer Handschrift der Camina Burana.
Thomasin von Zerklaere: Der welsche gast, Illustrationen in einer Handschrift von ca. 1256, Süddeutschland: weibliche Tugenden
Entstehung der eng mit dem Text verknüpften und wohl bereits von Thomasin konzipierten Abbildungen zur Illustration des didaktischen Lehrgedichtes aus den 1210er Jahren.
Kopfbedeckungen: bei den jungen Frauen unbedecktes Haar in Wellen gelegt oder zu Zöpfen gebunden, ältere Frau mit Gebende
Westeuropa: Frankreich und England
Fécamp Psalter, um 1180, Frankreich: Bauern bei der Aussaat
Entstehung der Illustration als Teil eines Kalenderblattes für den Monat Oktober.
Psalter/Bilder-Bibel, um 1200, Frankreich: heilige Agnes von Rom, Judith, törichte Jungfrauen
Miniaturen Teil einer bebilderten Bibel mit gegen Ende des 13.Jhs. hinzugefügtem Text.
Lateinischer Psalter, erstes Viertel 13.Jh., England: Mose wird in Ägypten gefunden, Befehl des Herodes
Illustrationen in einer illuminierten Prachthandschrift.
Kreuzfahrerbibel/Maciejowski-Bibel, 1240er-Jahre, Frankreich: Schwester des Propheten Mose und andere Damen, Frauen für Benjamiten, Ruth und Bäuerin, Bauern bei Feldarbeit, Isaacs Gemahlin Rebekka, Frau und Dienerin eines reisenden Leviten
Bildliche Darstellung des Alten Testamentes in Szenen im zeitgenössischen gotischen Stil.
Vergleichbare Darstellungen zeigen die um 1250 ebenfalls in Frankreich entstanden Handschriften der Bible moralisée (Codex Vindobonensis 2554 und Ms. Bodl. 270b aus Oxford).
Ein Blick über den Tellerrand: Darstellungen von Frauen des hohen Adels, von Heiligen und von Personifikationen aus dem Zeitraum zwischen ca. 1160 und 1250 gibt es hier.
Literarische Quellen
Hartmann von Aue: Erec, um 1185, Deutschland
„klassischer“ Artusroman in Form eines Aventiureromans mit Doppelwegstruktur: Ziel des durch Selbstfindung des Helden erreichten, gleich gewichteten Verhältnisses von Gegenwelt und Artushof, von Einzelnem und Gesellschaft.
> Folgerungen für die Darstellung
Alle Quellen eines Zeitraumes lassen sich wahrscheinlich nie erfassen und man wird wohl immer das Gefühl haben, etwas eigentlich sehr Wichtiges nicht gefunden zu haben. Aus den nun gesichteten Quellen (deren Schwerpunkt klarerweise auf dem heutigen Süd- bis Mitteldeutschland liegt, obgleich ich mir auch Abbildungen aus dem staufischen Sizilien, Frankreich und England angeschaut habe) aus der Zeit etwa zwischen 1170 und 1250 mit Darstellungen nicht-hochadeliger und nicht-heiliger Frauen lassen sich jedoch einige Schlüsse für die Kleidung meiner Bürgerin ziehen, auf denen ich aufbauen kann.
Unter- und Oberkleidung
Die Oberkleider der Statuen der Jungfrauen und der Synagoge, die Frauendarstellungen auf dem Erntebild des Jungfrauenspiegels, die Illustration des Codex Buranus und die Abbildung der Schwester des Mose in der Maciejowski-Bibel legen für die erste Hälfte des 13.Jhs. eine durch das Zusammenraffen des Kleides mit einem Gürtel oder etwas Ähnlichem im Bereich zwischen Taille und Hüfte erreichte figurbetontere Oberkörperpartie nahe. Zudem deuten sie auf die Verwendung eines ledernen Gürtels mit einem herab hängenden Ende hin.
Kopfbedeckungen
Überkleidung
Die Zusammenfassung der Quellenlage und der Abgleich der vorhandenen Quellen mit dem Darstellungsziel legen nun nahe, hauptsächlich die Kleider der heiligen
Elisabeth und Klara, die Statuen der Törichten Jungfrauen am Magdeburger Dom, die Statue der Synagoge am Bamberger Dom und das Erntebild des Jungfrauenspiegels sowie ferner das Reiner Musterbuch, den Welschen
Gast, den Lateinischen Psalter und die Maciejowski-Bibel als Basis für die weitere Arbeit zu nehmen.
Abbildungsnachweise und verwendete Literatur
Abb. 2: in Kania, Katrin: Kleidung im Mittelalter. Materialien – Konstruktion – Nähtechnik. Ein Handbuch. Köln: Böhlau Verlag 2010. S. 289.
Abb. 5: Institut für Realienkunde, Krems an der Donau: http://tethys.imareal.sbg.ac.at/realonline/ (Zugriff 16.04.2014).
Abb. 19: Pierpont Morgan Library, Ms M. 638 fol. 9r, 18r, 17r, 17v, 4r und 15v: www.themorgan.org/exhibitions/exhibOnlineThumbs.asp?id=OnlineKings (Zugriff 14.01.2014).